«Digital Health kommt»
Prof. Dr. Alfred Angerer unterrichtet an der ZHAW School of Management and Law und leitet die Fachstelle Management im Gesundheitswesen des Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie – gleichzeitig ist er Co-Direktor des Digital Health Labs. Im Interview erklärt er uns, was Digital Health genau ist, wie die Zukunft unseres Gesundheitssystems aussehen wird und worauf sich die Teilnehmenden des diesjährigen Digital Health Lab Days besonders freuen können.
Herr Prof. Dr. Angerer, Ihr Forschungsschwerpunkt an der ZHAW ist «Digital Health». Worum geht es da? Wie erklären Sie einem Laien, woran Sie forschen?
Das Thema ist nicht schwer zu verstehen. Unter Digital Health versteht man den Einsatz von modernen Technologien im Gesundheitswesen. Damit sollen erstens die Qualität gesteigert, zweitens die Kosten gesenkt und drittens besser auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten eingegangen werden.
Sie leiten viele Projekte. Können Sie ein paar Beispiele von konkreten Umsetzungen erläutern? Wo kommt Digital Health heute schon zum Einsatz?
Die Digitalisierung ist inzwischen überall im Gesundheitswesen angekommen. Häufig denkt man beim Stichwort Digital Health an operierende Roboter und Künstliche-Intelligenz-Anwendungen. Das ist nicht ganz falsch, denn es wird in der Tat schon in Pilotprojekten daran gearbeitet. Wenn Sie beispielsweise in Kopenhagen beim Notruf anrufen, hört da nicht nur ein Mensch zu, sondern auch eine Maschine. Die Software analysiert in Echtzeit das Gesagte, präsentiert mögliche Diagnosen und schlägt dem Notrufangestellten vor, welche Nachfragen er stellen sollte. Weniger spektakulär, aber extrem hilfreich sind viele elektronische Lösungen, die sich nach und nach in unserem Alltag durchsetzen. Denken Sie an das Buchen von Terminen beim Arzt über das Internet. Oder eine App, die Sie bei einer Schmerztherapie als Tagebuch nutzen.
Prof. Dr. Alfred Angerer doziert am Institut für Gesundheitsökonomie an der ZHAW und hat zusammen mit zwei Kollegen das Digital Health Lab ins Leben gerufen.
Wo sehen Sie aktuell das meiste (ungenutzte) Potenzial?
Unsere Forschung zeigt auf, dass sich drei grosse Gebiete durch die Digitalisierung substanziell verändern werden: Zum einen werden Patientinnen und Patienten «empowert» und können sich in vielen Fällen selbst helfen. Denken Sie an eine App, mit der man selbst feststellen kann, ob die Kopfschmerzen einen Gang zur Ärztin rechtfertigen. Zum anderen kann der Fluss der Patientinnen und Patienten durch das System optimiert und ihr Kontakt zu den einzelnen Organisationen verändert werden. Eine Videokonferenz mit einem Arzt ist da ein Beispiel aus der Telemedizin. Zu guter Letzt werden die medizinischen Kernaktivitäten stark von der Technologie profitieren. So kann eine Ärztin zusammen mit einer Software viel sicherer eine treffende Diagnose stellen.
Die fortschreitende Digitalisierung kann vor allem für ältere Personen eine besonders grosse Herausforderung darstellen. Inwiefern verbessert Digital Health auch das Leben nicht digital affiner Menschen?
In unseren Projekten stellen wir immer wieder fest: Nicht das Alter, sondern die Einstellung ist entscheidend, wenn es darum geht, sich mit den Digital-Health-Lösungen anzufreunden. Damit eine solche Lösung akzeptiert wird, ist es essenziell, ihren Nutzen aufzuzeigen. Wenn sich eine Diabetikerin beispielsweise nicht mehr täglich Blut abnehmen muss, sondern ohne einen Nadelstich über einen Lichtsensor die Blutzuckerwerte ablesen kann, ist der Nutzen sehr offensichtlich.
Das Thema Gesundheit hat durch die Corona-Pandemie einen neuen Stellenwert erhalten. Inwiefern hat die Pandemie die Entwicklung im Bereich Digital Health gefördert?
Das ist eine sehr gute Frage, die wir in unserem bald erscheinenden Digital Health Report vertieft untersucht haben. Die Kurzantwort lautet: Wir können es noch nicht zu hundert Prozent belegen, aber alle Anzeichen deuten darauf hin, dass es tatsächlich einen nachhaltigen Schub für die Digitalisierung gab. Wir wissen von telemedizinischen Anbietern, die zum Teil sieben Mal mehr Konsultationen hatten. In machen Spitälern wurden die IT-Projektgelder für kurze Zeit gar verzehnfacht. Aber der wichtigste Fortschritt war, dass die Mauer in den Köpfen vieler eingerissen wurde. Orthopädische Spitäler wie die Schulthess Klinik in Zürich hat auf einmal Physiotherapie-Sitzungen online angeboten. Noch vor zwei Jahren wären sie wahrscheinlich dafür laut ausgelacht worden, im Lockdown wurde das zur neuen Normalität.
Vom Schrittzähler bis hin zu Künstlicher Intelligenz – Digital Health findet in verschiedensten Feldern eine Anwendung.
Viele Unternehmen – sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer – wurden von der Pandemie hart getroffen. Hat Corona vielleicht neue Aspekte im Bereich Digital Health ans Licht gebracht?
Corona hat uns klar aufgezeigt: Telearbeit, also die Arbeit von zuhause aus, hat seine Berechtigung, aber auch klare Grenzen. Technisch ist es für viele kein Problem, von daheim aus zu arbeiten. Manche Vorgesetzte mussten einsehen, dass man auch ohne Präsenz vor Ort ausgezeichnete Arbeit leisten kann. Bezüglich dem betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) ist jedoch Telearbeit viel mehr, als eine reine Technologiefrage. Was sie auf Dauer mit unserer (psychischen) Gesundheit anstellt, wird noch genau zu erforschen sein. Ich kann mir aber jetzt schon folgende Antwort vorstellen: Telearbeit ist nicht für alle Menschen gleich gut geeignet, eine Mischung aus Präsenzarbeit und Telearbeit ist wahrscheinlich für die meisten von uns der goldene Mittelweg.
«In Winterthur hat es eine gute Mischung aus grossen Akteuren und kleinen, innovativen Start-ups.»
Wer sind die Hauptplayer, wenn es um die Entwicklung in diesem Bereich geht?
Für die Schweiz kann man sicher sagen: Es sind die einzelnen privaten Organisationen und nicht die öffentliche Hand. Die Innovationen kommen zum einen aus Start-ups, die ganz neue Wege ausprobieren. Zum anderen sehe ich in letzter Zeit auch vermehrt Spitäler, die das Thema ernster nehmen und beispielsweise Innovationsmanager beschäftigen. Was mir Sorgen bereitet, ist, dass manche Themen, wie zum Beispiel das Elektronische Patientendossier, zu gross und unrentabel sind, um sie komplett dem freien Markt zu überlassen. Hier würde ich mir in der Tat wünschen mehr zentrale Impulse vom Bund zu sehen.
Welche Rolle spielt der Standort Winterthur in dem Ganzen?
Ich glaube Winterthur hat sehr gute Voraussetzungen für Unternehmen, die das Thema Digital Health vorantreiben wollen. Es hat hier eine gute Mischung aus grossen Akteuren (Leistungserbringer, Versicherungen, Technologieanbieter, Hochschulinstitute) und kleinen, innovativen Start-ups. Aber noch wichtiger als nur viele Akteure zu haben, ist die Vernetzung untereinander. Da erlebe ich die Winterthurer Akteure als sehr unkompliziert – man kommt sehr schnell niederschwellig ins Gespräch und schlussendlich auch ins Geschäft.
Einer der Workshops bei der ersten Ausgabe des Digital Health Lab Days.
Wie nehmen Sie die regionale Start-up-Szene wahr? Passiert hier etwas in diesem Bereich?
Wir haben letztes Jahr eine Umfrage unter Schweizer Digital-Health-Start-ups unternommen. Von den 42 Start-ups, die teilgenommen haben, kamen 57 Prozent aus dem Kanton Zürich. Das zeigt eindrücklich, wie attraktiv und wichtig der Grossraum Zürich für die Digital Health-Szene ist. Auch in Zukunft wird uns das Thema weiter intensiv beschäftigen. In unmittelbarer Nähe zu Winterthur entsteht ausserdem das «Digital Health Center Bülach». Zusammen mit dem Technopark Winterthur haben wir damit in der Gegend sehr attraktive Aktivitäten für Start-ups. Dazu möchte ich auch die vielen Angebote und Kooperationen vom Digital Health Lab zählen.
Kommen wir direkt zum Digital Health Lab. Wer steckt dahinter?
Das Schöne am ZHAW Digital Health Lab ist, dass es analog zu Start-ups, organisch an der Hochschule entstanden ist. Die Kernidee wurde von mir zusammen mit meinen beiden Professoren-Kollegen Sven Hirsch und Markus Melloh vorangetrieben. Inzwischen sind wir mehr als 80 ZHAW-Angehörige, die sich mit allen Facetten von Digital Health beschäftigen. Fast alle Wissensdisziplinen sind beteiligt, von Technologie, Gesundheitswissenschaften, Psychologie, Linguistik bis zur Gesundheitsökonomie – überall findet man in unseren Kreisen eine Expertin oder einen Experten.
«Corona hat uns klar aufgezeigt: Telearbeit, also die Arbeit von zuhause aus, hat seine Berechtigung, aber auch klare Grenzen.»
Inwiefern können unabhängige KMUs und Unternehmen von der Arbeit des Digital Health Labs profitieren?
Wir arbeiten in zahlreichen Projekten sehr gerne mit der Industrie zusammen, egal ob gross oder klein. Unser Beitrag dabei ist vielfältig, unterscheidet sich jedoch stark darin, wie weit die Idee des Partners ist. Bei manchen Projekten, wo schon fertige Produkte bestehen, geht es beispielsweise darum ihre tatsächliche Wirksamkeit wissenschaftlich zu überprüfen. So haben wir für ein kleines Start-up gemessen, ob sich die Prozesse im OP des Kantonsspitals Graubünden mit einer neuen Digital Health-Lösung wirklich verbessern lassen können. Andere Akteure hingegen kommen in einer früheren Phase auf uns zu – sie haben dann erst ein grobes Konzept vorliegen. Hier können wir helfen, das Konzept zu verfeinern, technologische Prototypen zu erstellen und die Anwendung im Alltag zu testen.
«In Winterthur erlebe ich viele Personen als unkompliziert, man kommt niederschwellig ins Gespräch und schlussendlich auch ins Geschäft.»
Das Thema des diesjährigen Digital Health Lab Days lautet «Implementing Digital Health Innovations» – mit welchem Mehrwert können die Teilnehmer rechnen?
Ich sehe vor allem drei Vorteile: Erstens sind wir thematisch sehr breit aufgestellt, weswegen Teilnehmende die weite Welt von Digital Health kennenlernen können. Zweitens sind die meisten vorgestellten Projekte sehr praxisorientiert, es geht nicht um graue Theorien, sondern um Lösungen für das Gesundheitswesen von hier und heute. Und drittens ist es eine sehr soziale Veranstaltung. Uns war es wichtig, mittels interaktiver Workshops und einer Präsenzveranstaltung einen echten Austausch zu haben.
Zur Veranstaltung: An wen richtet sie sich und wird sie physisch oder virtuell stattfinden?
Es ist eine Veranstaltung für alle Personen, die sich für Digital Health interessieren. Egal wo man sich auf seiner Digital Health-Reise befindet, man wird dort thematisch etwas Interessantes finden. Ein Teil der Veranstaltung wird virtuell, ein anderer Teil aber auch physisch stattfinden. Allerdings umfasst der Online-Besuch nur die Key-Note Vorträge. Wer also die Workshops besuchen und am wichtigen sozialen Austausch teilnehmen will, sollte unbedingt vor Ort anwesend sein.
In Ihrem Referat stellen Sie die «Key Insights from the Digital Health Report 2021» vor. Können Sie uns schon etwas davon verraten?
Meine Kinder würden sagen: Man darf nicht spoilern! Aber so viel darf ich schon verraten, die Trends meines letzten Reports 2017 haben sich wieder bestätigt. Digital Health kann weiterhin einen guten Beitrag für die Qualität im Gesundheitswesen bringen. Ein Trend kam neu dazu, der für uns sehr überraschend war, aber den verrate ich lieber noch nicht.
Worauf freuen Sie sich am meisten?
Ganz ehrlich: Beim Apéro mit einem Bier in der Hand mich wieder mit echten Menschen auszutauschen – vollkommen analog.
Lassen Sie uns noch etwas in die Zukunft blicken. Wie könnte die Zukunft des Gesundheitswesens aussehen? Welche Szenarien sind realistisch?
Gerne, allerdings sehe ich eigentlich nur ein Szenario: Digital Health kommt! Über die Geschwindigkeit lässt sich allerdings vortrefflich streiten. So bekommen wir bei unseren Befragungen immer sehr unterschiedliche Antworten, wie schnell sich beispielsweise künstliche Intelligenz durchsetzen wird. Über einen Punkt sind sich aber alle Experten einig: Man muss keine Angst vor einer kalten, technokratischen Zukunft haben. Die empathische Fachperson, die sich Zeit für mich und meine Gesundheitssorgen nimmt, wird auch in Zukunft noch bleiben.
«Man muss keine Angst vor einer kalten, technokratischen Zukunft haben.»
Haben Sie gerade ein besonders spannendes Projekt in der Pipeline, das für die Winterthurer Bevölkerung von Nutzen sein könnte?
Wir sind dabei, für das Winterthurer Impfzentrum in Töss eine computerbasierte Simulation zu vollenden. Am Rechner haben wir ein massstabsgetreues Modell des Impfzentrums erstellt, wo wir viele kleine virtuelle Männchen, die Impflinge, durchlaufen lassen können. Mithilfe solcher Modelle können wir die Prozesse optimieren, Flaschenhälse identifizieren und «Was-wäre-wenn»-Szenarien durchrechnen. Solche Simulationen helfen der Stadt zukünftig noch effektiver und effizienter Impfzentren aufzubauen.
Kommen wir zurück nach Winterthur. Gibt es einen Ort in Winterthur, den Sie gerne besuchen, um Energie zu tanken und sich inspirieren zu lassen?
Ich bin ein grosser Freund der Wälder und davon gibt es in Winterthur ja einige! Am ehesten trifft man mich rund um den Ebnet beim Joggen. Bei der vielen Digitalisierung darf man die schöne analoge Welt nicht ganz vergessen.
Weitere Informationen zum 3. Digital Health Lab Day finden Sie hier.
Beim Joggen in der Natur kann Alfred Angerer abschalten und die analoge Welt geniessen.
Interview: Catherine Zimpfer und Linda Stratacò, August 2021