Wie wollen wir als Gemeinschaft leben und uns dabei gegenseitig stärken?
Die Ausstellung Wahlfamilie – Zusammen weniger allein ist aktuell bis zum 16. Oktober 2022 im Fotomuseum Winterthur zu betrachten. Sie beleuchtet anhand von Werken aus der Sammlung des Fotomuseum Winterthur sowie internationalen Positionen, wie (Wahl-)Familie als soziales und kulturelles Konstrukt fotografisch verhandelt und dargestellt wird. Direktorin Nadine Wietlisbach kuratiert die zeitgenössische Ausstellung und gibt einen prägnanten und doch vertieften Einblick dazu.
Nadine Wietlisbach ist Direktorin des Fotomuseum Winterthur und kuratiert die aktuelle Ausstellung. Foto: Anne Morgenstern
Die Ausstellung Wahlfamilie - Zusammen weniger allein läuft vom 10. Juni bis 16. Oktober 2022 im Fotomuseum Winterthur.
Die Fotografen/-innen setzen sich dabei unter anderem mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinander.
Was bedeutet für Sie persönlich «(Wahl)-Familie»?
Sie bedeutet für mich persönlich, gemeinsam mit Humor durch den Alltag zu gehen, Freude und Leid teilen zu können und sich gegenseitig zu stärken. Wahlfamilie hängt auch damit zusammen, sich aktiv immer wieder füreinander zu entscheiden und sich den eigenen Privilegien bewusst zu sein.
Was erwartet die Besuchenden bei der aktuellen Ausstellung «Wahlfamilie – Zusammen weniger allein» und was macht sie besonders?
Die Ausstellung sowie die im Christoph Merian Verlag erschienene Publikation sollen ein Zeichen für die Vielfalt fotografischer und kritischer Herangehensweisen an (Wahl-)Familien und ihre Eigenarten, Leidenschaften, Unzulänglichkeiten setzen. Sie sind ein Angebot, gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir zusammen als Gemeinschaft leben wollen und uns dabei gegenseitig stärken können – unabhängig davon, ob wir in Paar- und/oder Familienkonstellationen leben, mit oder ohne Kinder, «blutsverwandt» sind oder uns gegenseitig füreinander entschieden haben.
Die Ausstellung vereint verschiedene Erzählstränge, anhand derer die Fotografen/-innen ausgewählt wurden. Einige der Kunstschaffenden setzen sich mit ihrer eigenen Biografie und Familienhistorie auseinander und arbeiten diese mittels Fotografien aus dem Familienarchiv und fotografischen Zeitdokumenten auf. Andere rearrangieren die eigenen familialen Strukturen, indem sie ihre Familienmitglieder inszenieren, welche so zu Komplizen/-innen in der Bildfindung werden. Auch die Dokumentation und das kollaborative Erforschen von Gemeinschaften, die Verbundenheit ausserhalb von (Bluts-)Verwandtschaft leben, ist ein Versuch, festgefahrene (Rollen-)Bilder aufzubrechen und stellt Vorstellungen von traditioneller Familie in Frage. Weiter wird der Akt des Fotografierens selbst, der begleitet, dokumentiert und es schafft, Intimität als tragendes und gleichzeitig flüchtiges Element mit einzufangen, in der Ausstellung untersucht. Einige der ausgewählten Fotografen/-innen verbinden alle diese Aspekte in ihrer Arbeit, bei anderen ist besonders eine methodische Arbeits- oder Erzählweise gut erkennbar.
Zudem war es dem Fotomuseum Winterthur von Anfang an ein Anliegen, die Menschen in unserer Nähe – damit ist die Stadt Winterthur gemeint, in der das Herz unseres Museums schlägt, und die ganze Schweiz, die doch klein genug ist, um als nah zu gelten – mit in die Überlegungen zu Familienbildern einzubeziehen. Über einen Open Call hat das Museum Menschen gesucht, die ein einzelnes Familienbild oder vielleicht auch ein oder mehrere Alben mit uns teilen möchten – und ihre Geschichte(n) dazu. Auch die auf diesem Weg zu uns gelangten Bilder zeugen von Glücksmomenten, Verlusten, vom vollen Leben mit all seinen Leerstellen – die Fotografie spielt auch hierbei ihre eigene Rolle.
Wie kam die Auswahl der verschiedenen Familienporträts zustande?
Insgesamt habe ich zweieinhalb Jahre an der kuratorischen Auswahl gearbeitet, einige Arbeiten wurden dann spezifisch für das Fotomuseum Winterthur und unsere Räumlichkeiten weiterentwickelt. Die Installationen von Charlie Engman und Leonard Suryajaya nehmen beispielsweise ganze Wände ein. Wie bei allen kuratorischen Projekten muss ich mich als Kuratorin für und natürlich gegen die Inkludierung zahlreicher Fotografen/-innen entscheiden – das ist Teil des Prozesses. Unsere Auswahl ist divers in Bezug auf Alter und kulturelle Identität und vereint eine Vielzahl visueller Sprachen.
Interview: Alessia Baumgartner